„Demokratie braucht viele unterschiedliche Datenmodelle und Webdienste.“

Interview mit Dr. Stefan Voigt. Der promovierte Geograf und Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) ist Ideengeber, Mitgründer der Open Search Foundation und Mitglied des Leitungsteams von openwebsearch.eu.

Interview: Susanne Vieser

Persönliche Daten gegen Orientierung im Web – dieser Deal steckt meistens hinter der Online-Suche und der Nutzung von Web-Diensten. Stefan Voigt hat dagegen eine Menge Einwände. Der promovierte Geograf beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Entwicklung des Internets und wünscht sich dort mehr konkurrierende Angebote und auch mehr Demokratie.

Um die Online-Suche transparenter zu gestalten, hat er mit Freund:innen und Kolleg:innen die Open Search Foundation gegründet und erste technische Ideen für eine offene, transparente Suche getestet und umgesetzt. Seit Herbst 2022 ist Voigt im Leitungsteam des europäischen Forschungsprojekts OpenWebSearch.EU: “Eigentlich geht’s nicht nur um Technik, wir müssen den europäischen Ansatz für Internettechnologie in die Köpfe und die Maschinen bekommen“, sagt er. – Ein Interview zum „anderen“ Suchen und zum souveränen Umgang mit dem Internet.

Warum haben Sie die OSF (mit-)gegründet?

Dr. Stefan Voigt: Aus Sorge, wie wir mit dem Internet umgehen. Viele bunte, praktische Web-Dienste kommen aus dem Silizium-Tal. Wenn wir sie benutzen, achten wir meist nicht darauf, dass dadurch unsere ökonomische, gesellschaftliche und informationelle Souveränität extrem beeinflusst wird. Wir lassen es aus Bequemlichkeit zu, dass sich im Internet immer mehr wirtschaftliche und soziale Macht auf einige wenige Konzerne konzentriert, die dann die Regeln bestimmen und durch Datensammeln unsere Privatsphäre verletzen. Das dringlichste Beispiel für diese Entwicklung ist die Onlinesuche, der am häufigsten genutzte Web-Dienst. Wenn wir hier mit einem offen zugänglichen, frei nutzbaren Index für Information im Web  eine europäische Antwort auf drängende Fragen und die Grundlage für mehr Alternativen legen, ist das ein erster Schritt zu mehr Transparenz und Demokratie im Internet – die Voraussetzung für eine bessere digitale Zukunft.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Stefan Voigt: Als Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt, DLR, bin ich viel herumgekommen und habe oft mit Forschenden, Gesprächspartner:inne oder Kolleg:innen über die Situation diskutiert … wie wir online nach Informationen suchen, nicht wissen, warum uns welche Hinweise gezeigt werden und dass wir dafür selbst viele Daten freigeben müssen. Als Gegenmittel entstand die Idee für einen Webindex, der Informationen nach einsehbaren Kriterien gewichtet und statt auf einem einzelnen Server bei vielen Rechenzentren gespeichert werden könnte. Auch beim DLR fand ich Unterstützung für diese Ideen. Konkret wurde die Vereinsgründung nach einem Gespräch mit der Leiterin der Social Entrepreneurship Akademie in München. Sie riet mir, erstens, die Idee zu einem offenen Webindex mit Rechenzentren zu diskutieren und zu demonstrieren und, zweitens, einen Verein zu gründen. Damit könnten wir Flagge zeigen und Gleichgesinnte mit für das Thema gewinnen.

Wie und wo haben Sie Mitstreiter:innen gefunden?

Stefan Voigt: Zunächst im Familien- und Freundeskreis sowie unter Wissenschafts- und Abeitskolleg:innen. Nach der Vereinsgründung haben wir insbesondere wissenschaftliche Rechenzentren wie das Leibniz-Rechenzentrum oder das CERN in der Schweiz mit der Idee konfrontiert und dort meistens offene Türen eingerannt. Viele IT-Expert:innen schlossen sich uns an. Dann kamen weitere Institutionen, Unternehmen, Vereine, Verbände und mit ihnen noch mehr Interessierte.

Die OSF besteht seit Herbst 2018 – wie weit ist der offene Index gediehen? Kann ich damit schon arbeiten?

Stefan Voigt: Nein, mit dem offenen Webindex kann noch keine:r arbeiten, er existiert bislang in Konzepten und ersten Teilen. Aber wir konnten das Thema bei der Europäischen Union platzieren, daraus entstand das Forschungsprojekt OpenWebSearch.EU, das 2022 startete. Es bringt 14 Projektpartner zusammen, die mit 8,5 Millionen Euro Förderung bis 2025 an dem geplanten Index arbeiten und forschen. Bis jetzt wurden erste Crawler-Experimente zum Indexieren von Web-Information durchgeführt, mit ersten Such-Frontends ist in ein, zwei Jahren zu rechnen. Aber eigentlich geht’s nicht nur um Technik, wir müssen den europäischen Ansatz für das offene und diverse Internet in die Köpfe und die Maschinen bekommen – und mit dieser Mission sind wir in den vergangenen Jahren sehr weit gekommen.

Wie hat OpenWebSearch.EU Ihre Arbeit und Ihr Leben verändert?

Stefan Voigt: Vorher war ich für die Open Search Foundation ehrenamtlich unterwegs, jetzt habe ich meine Arbeitszeit beim DLR reduziert und helfe bei der Koordination der Arbeiten am Webindex mit rund 40 bis 50 Wissenschaftler:innen und deren Arbeitsgruppen. Wir kommen jetzt ins Machen, das ist eine gute Erfahrung für mich.

Kann ein offener Webindex im europäischen Verbund beschleunigt werden?

Stefan Voigt: Die Hoffnungen sind hoch, aber noch gibt es keinen offenen Index, der auf verteilten Ressourcen kooperativ arbeitet. Wir sind die ersten, die so einen Index entwickeln und aufbauen wollen. Das muss noch größere Kreise ziehen – weshalb wir an OpenWebSearch.EU weitere Forschungsgruppen, Unternehmen, Startups beteiligen und technische Aufgaben aufteilen werden.

Trotzdem ein Blick nach vorne: Wie suchen wir in fünf Jahren online nach Informationen?

Stefan Voigt: Diverser, mit viel mehr unterschiedlichen Suchmaschinen und spannenderen Frontends als heute. Wir sind 20 Jahre lang durch Google und Co an sehr beschränkte Suchdienste gewöhnt worden. Auch das zeigt, wie die Konzentration auf einige wenige Player die Entwicklung von Alternativen und damit Fortschritt behindert. Die transparente Anpassung von Suchanfragen an individuelle Bedürfnisse, bequemere Suchmasken mit mehr Wahlmöglichkeiten, die übersichtlichere Darstellung der Ergebnisse – Vieles wäre heute möglich, wurde aber nie realisiert. Erst jetzt kommt wieder Bewegung in die Onlinesuche mit Künstlicher Intelligenz, ChatBots wie ChatGPT und anderen oder Large-Language-Modellen.

Was treibt Sie an?

Stefan Voigt: Die Sorge um die Zukunft, die wirtschaftliche und informationelle Selbstbestimmung von Individuen und Europa, vor allem aber die Frage, wie unsere Kinder einmal den Digital Space nutzen werden und können. Wir haben inzwischen gelernt, dass Demokratie keine exklusiven Plattformen oder eine Plattform-Ökonomie braucht, sondern im Gegenteil: viele unterschiedliche Datenmodelle und Webdienste. Als Wissenschaftler habe ich auch die Aufgabe aufzuklären und ich brenne für Lösungen, die uns weiterbringen.

Welche Unternehmer:in würden Sie gerne vom offenen Suchen überzeugen und warum?

Stefan Voigt: Die vielen kleinen, mittelständischen Unternehmen, die sich heute von Internet-Konzernen ausnehmen lassen. Denen würde ich gerne die Scheuklappen öffnen und zeigen, welche Konsequenzen es hat, wenn sie sich aus Bequemlichkeit oder weil es günstig ist, auf Plattformen und zu Clouddienste locken lassen, deren Technik nicht transparent ist und bei denen sie auch noch mit ihren Daten bezahlen. ,Wir haben nix zu Verbergen‘, höre ich oft. Natürlich nicht. Aber mit dieser Haltung gehören sie zu den 90 Prozent der Menschen, die sich nicht klarmachen, wie lukrativ heute personenbezogene Daten sind und dass diese oft auch gegen persönliche Interessen genutzt werden können. Dabei gibt es Open Source-Programme, Cloud- oder Open Data-Dienste, die vielleicht anfangs etwas Gewöhnung brauchen, aber viel datensparsamer, teils besser und nachhaltiger sind.

Dr. Stefan Voigt

Dr. Stefan Voigt

Co-Gründer und Vorstand der Open Search Foundation
Geograf, Forscher am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)