„Wer keine Alternative hat, gibt sich eben mit Bekanntem zufrieden“
Interview mit Dr. Olivier Blanchard. Der Geisteswissenschaftler und Unternehmensberater Dr. Olivier Blanchard co-leitet bei der OSF die Fachgruppe Economy.
Interview: Susanne Vieser
Knapp 70 Milliarden US-Dollar allein im dritten Quartal 2022: Google profitiert davon, dass knapp 84 Prozent der Menschen in aller Welt mit seiner einfach aussehenden Suchmaschine suchen. Vor allem aber generiert der Konzern Einnahmen, weil Unternehmen viel bezahlen, um entweder in den Suchergebnissen nach vorne zu kommen oder daneben auf eigene Angebote zu verweisen. Google führt mit diesem Geschäftsmodell den Markt an, Konkurrenten wie Baidu, Bing, Yandex sind deutlich kleiner und bieten fast denselben Service.
„Ein offener Webindex würde dieser Tendenz auf dem Suchmarkt entgegenwirken, dass nur ein Unternehmen fast alle Anwender:innen bedient und damit das Angebot bestimmt“, sagt Olivier Blanchard. Der promovierte Geisteswissenschaftler und Mehrfachgründer beschäftigt sich schon seit Jahren mit Suchmaschinen oder dem digitalen Werbemarkt und wünscht sich ein vielfältigeres Angebot. Seit 2020 engagiert er sich bei der Open Search Foundation (OSF) und hinterfragt mit der Economy-Fachgruppe den wirtschaftlichen Nutzen von Such-Alternativen und einen spannenden Markt: „Suche und Informationsbeschaffung sind im digitalen Zeitalter doch fast schon demokratische Grundrechte“, so Blanchard. „Dieser Aspekt hat mich immer daran fasziniert.“
Einkauf, Personal, Marketing – es gibt kaum einen Unternehmensbereich, der nicht nach Informationen sucht: Sind Unternehmen immer zufrieden mit dem Suchergebnis?
Olivier Blanchard: Wer ist schon immer zufrieden? Ich glaube, dass Unternehmen – falsch: die Mitarbeitenden – tatsächlich in der Regel zufrieden sind. Das liegt aber nicht so sehr daran, dass man generell mit Suchmaschinen zufrieden ist, sondern eher daran, dass wir seit zwei Jahrzehnten keine echten Alternativen haben oder kennen und den Standard quasi normativ wahrnehmen. Wer keine Alternative hat, gibt sich eben mit Bekanntem zufrieden.
In welchen Bereichen liefern Suchmaschinen unbefriedigende Ergebnisse?
Blanchard: Die Suchbereiche, die einst schwach waren, werden schrittweise und fokussiert verbessert. Beispiel Produkt-Suche: Sie lieferte früher wenige Ergebnisse und ist heute besser ausgebaut. Was relevante Standard-Anwendungen betrifft, beobachten wir, dass sich die weißen Flecken auf der Suche-Landkarte allmählich schließen. Trotzdem brauchen wir Alternativen, vor allem für Fortschritt und neue Impulse – für das Suchen und Recherchieren selbst, für die Nutzung und für die Kommerzialisierung von Suchdiensten.
Mit ChatGPT, dem Textgenerator auf Basis Künstlicher Intelligenz, scheint gerade ein solcher Impuls zu kommen: Kann ChatGPT die Suche und den Markt verändern?
Blanchard: Das ist ein konkretes Beispiel für einen alternativen Zugang zu Informationen. Das User Interface ist neuer, interessanter. Bing und Microsoft haben das Thema bereits stark im Fokus. Wichtig ist dabei aber zu verstehen, mit welchen Informationen Systeme gefüttert werden und wie diese von Nutzern verwendet werden.
Was hat Sie als Berater zur OSF gebracht und warum engagieren Sie sich hier?
Blanchard: Seit jeher verfolgt mich das Thema der Internet-Suche: schon in meinem ersten Job Ende der 1990er Jahre bei Lycos, übrigens damals eine der relevantesten Suchmaschinen, über Microsoft bis zur OSF. Suche oder Informationsbeschaffung sind doch im digitalen Zeitalter fast schon demokratische Grundrechte. Dieser Aspekt hat mich immer daran fasziniert.
Nutzen Unternehmen Alternativen zu den bekannten Suchdiensten?
Blanchard: Nach meiner Kenntnis nutzen die mir bekannten Unternehmen selten Alternativen.
Ein offener Webindex kann und soll neue Suchdienste initiieren. Wie hoch schätzen Sie das Umsatzpotenzial für diesen alternativen Suchmarkt ein?
Blanchard: Es hat ja bereits etliche Versuche gegeben, neue Suchmaschinen zu etablieren und es gibt diese Versuche weiterhin. Wahrnehmbar und durchaus vielfältig. Aber wir stellen fest, dass diese meistens in Nischen agieren. Das muss in Zukunft nicht so bleiben: Menschen und ihr Verhalten oder Umfeld ändern sich kontinuierlich. Das Bewusstsein für riskante Abhängigkeiten von Produkten und Diensten – und Suche ist definitiv ein hochrelevanter Service – beschränkt sich nicht nur auf den Energiesektor. Nutzer:innen erkennen zunehmend die Gefahren durch die großen Datenkraken bei der Internetnutzung, auch und gerade dadurch ergeben sich Chancen für neue Angebote.
Die Digitalwirtschaft hat die Tendenz, Oligopole oder gar Monopole auszubilden – schützt ein offener Webindex vor dieser Entwicklung?
Blanchard: Das stimmt leider. Natürlich würde ein offener Webindex dem entgegen wirken, dass auf dem Suchmarkt nur ein Unternehmen fast alle Anwender:innen bedient und damit das Angebot bestimmt. Diese Situation gehört zu den wichtigsten Motivationen für die OSF, hier aktiv zu sein.
Wie sieht der Suchmarkt in fünf Jahren aus?
Blanchard: Hoffentlich deutlich vielseitiger, was Angebote und qualitativ echte Alternativen angeht. Ob wir tatsächlich schon in 5 Jahren zu einem vielfältigeren Angebot gekommen sind, ist fraglich. Wir brauchen einen deutlich längeren Atem. Wir sollten aber jetzt mitwirken, Alternativen für die Zukunft zu schaffen. Je später wir anfangen, umso herausfordernder wird die Aufholjagd.
Und wo werden oder wollen Sie dann als Berater aktiv sein?
Blanchard: Da, wo Veränderung stattfindet und wo es brennt und ich tatsächlich mitwirken kann, erforderliche Veränderung mitzugestalten.
Dr. Olivier Blanchard
Geisteswissenschaftler, Unternehmensberater, Gründer DigiDoo Consulting & Digitalbeirat.io, Moderator Fachgruppe Economy